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Öffnet sich ein Hering dem Leben gegenüber

  • Autorenbild: Admin
    Admin
  • 12. Okt. 2016
  • 3 Min. Lesezeit

„Wie geht's“, fragt man einen immer und immer wieder, und geht’s einem wirklich gut, oder will man wie einer von denen sein, denen es wirklich gut geht, ruft man mit einer durchtriebenen Höhenlage in der Stimme „sehr gut“ oder „voll super“, und man reißt die Arme in die Luft und präsentiert sich in Siegerpose. Aber sie, sie war eine von den Introvertierten, und wenn es ihr wirklich gut ging, dann ganz tief innen drinnen, wo sich eine Klarheit und Ruhe sammelte wie eiskaltes Wasser in einem Gebirgssee, die sie mit einer erfrischenden Schärfe und genauen Schönheit dem Leben gegenübertreten ließ. Als Antwort auf die immer wieder irgendwie hingeworfene Frage hätte sie in diesen Zuständen eigentlich antworten müssen: „wie Gebirgssee!“, in dessen kühle Verbindlichkeit sie sodann gleich wieder zurück wollte. Als sie an einem Morgen an den Ufern eines derartigen Sees erwachte freute sie sich, und tauchte wenig später durch das schwere Haustor hindurch auf die Straße hinaus. Der Tag lag voll und verplant vor ihr, aber das zerrte sie in diesem Zustand nicht davon, weil sie war präsent wie ein Gebirgssee, und nahm akut nur wahr, wie der Fahrtwind der Straßenbahn an ihr vorbei schnitt, gefolgt von dem Klirren eines Schlüsselbundes in der Hand einer jungen vorbeieilenden Frau, gefolgt von dem kompakten Geräusch, das das Zuschlagen einer Autotür verursacht, gefolgt von dem leisen Rauschen das der Herbstwind in den Kronen der Parkbäumen aus den Blättern herauslöste, gefolgt von dem rhythmischen Aufschlagen der Absätze eines akkurat gekleideten Mannes, all das drang mit einer Intensität in sie ein, dass sie jetzt schon wusste, wie müde und übervoll sie abends sein würde, übervoll von dem nämlich, was sich hinter all den Eindrücken verbarg: das Leben, ganz einfach. Sie überquerte eine stark befahrene Straße und bog an der nächsten Ecke auf die Marktgasse ein. Sie mochte das südländisch angehauchte, scheinbar unbekümmerte Treiben hier und tauchte beglückt zwischen den Markständen hindurch, glitt an Hühnerschenkel, Cashewnüssen und Melonenbergen vorbei, die Gemüsestände ein Korallenriff aus leuchtenden Farben, die einander zuzwinkernden Verkäufer wie Taucher auf einem guten Tauchgang, einer lächelte ihr freundlich hinter seinen runden Taucherbrillen zu, die Geräusche ein ständiges an- und abschwellendes Rauschen, Sonnenstrahlen die zwischen den Markisen hindurch auf den Grund fielen wie auf den Meeresboden, müde aussehende Meeresbewohner, die in die entgegengesetzte Richtung an ihr vorbeizogen, ein nach Luft japsender Boxerhund, der Schatten eines Piratenschiffes der sich vor die Sonne schob und ein dicker Mann, der stark röchelnd Münzen in den Zigarttenautomaten einwarf. Schon von weitem schlug ihr dieser bestimmte Geruch aus Salz und Fäulnis entgegen, den sie an den Fischständen irgendwie mochte und irgendwie auch nicht, und wo die meist bereits filettierten, durchsichtigen Fischfleischteile ordentlich auf einem Meer aus weißem Eis verortet worden waren. Sie wechselte auf die gegenüberliegende Seite der Marktgasse und näherte sich langsam. Vor dem Stand gab es immer eine rechteckige, hüfthohe, schwarze Plastikschüssel, auf welcher in schiefer Kreideschrift „Heringe. Frisch!“ geschrieben stand. Sie spähte mit neugierigem Blick in die Schüssel hinein, aber konnte nichts entdecken unter der leise vor sich hinblubbernden Wasseroberfläche, die ein Schlauch mit Luftzufuhr für den Eindruck von Frische erzeugte. Plötzlich aber erhob sich eine Wasserblase so weit, bis ihre Oberfläche brach, und aus ihr sprang ein großer, frischer, schöner Hering empor, drehte sich einmal durch die Lüfte, seine Schuppern glitzerten im Sonnenlicht, hielt in seinem Salto kurz inne, blickte sie aus seinen hellen Heringsaugen heraus an, in diesem Blick stand ganz eindeutig geschrieben „Du musst langsam wirklich mal aufhören, so in Dich selbst versunken zu sein!“, blinzelte ihr kurz zu, tauchte wieder unter und nach ihm fiel das Wasser wieder in sich zusammen. Sie beugte sich über den Trog aber konnte außer dem künstlich erzeugten, weißen Sprudel nichts erkennen, ihr Herz schlug schneller, sie hob ihren Blick zum Fischverkäufer, der mir irgendwas beschäftigt war, sie blickte hinüber zum Verkäufer am Nebenstand, der aber ebenfalls mit irgendwas beschäftigt war, blickte nochmal aufs Wasser hinab, ging vorsichtig weiter, rang den ganzen Tag lang um Worte dafür, wie man dieses Aufbrechen einer Wasseroberfläche beschreiben konnte und wusste gleichzeitig, dass der Hering recht hatte und ebendies geschehen musste.


 
 
 

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